Wenn dein Bauchgefühl recht hat – und du trotzdem leiser wirst

Eine persönliche Geschichte über Irritation, politische Kultur – und die Frage, wer hier eigentlich Scham empfinden sollte

Der November ist der Monat, in dem weltweit über Gewalt gegen Frauen gesprochen wird. Es geht dann oft um das Offensichtliche: Zahlen, Hilfsangebote, Strafbarkeit. Seltener reden wir über die Grauzonen – Situationen, in denen etwas nicht „strafbar eindeutig“, aber trotzdem nicht in Ordnung ist. Und noch seltener reden wir darüber, wie Organisationen damit umgehen, wenn solche Situationen im Raum stehen.

Genau darum geht es in dieser Geschichte.

Ich habe lange gezögert, sie öffentlich zu erzählen. Nicht, weil mich das damalige Erlebnis bis heute traumatisiert. Sondern, weil mich eine andere Frage beschäftigt: Instrumentalisiere ich da etwas im Nachhinein?

Oder ist es genau jetzt – Jahre später, nach weitergeführten Debatten, #MeToo, mehr Sprache für das, was früher „halt so war“ – der richtige Moment, die Perspektive zu drehen?

Ich habe mich entschieden: Ich erzähle die Geschichte. Weil es weniger um eine Hand an meinem Po geht – und mehr darum, was eine politische Kultur über sich selbst verrät, wenn sie wegschaut.

Was damals im Landtag passiert ist

Ich war Abgeordnete im Hessischen Landtag. An einem Sitzungstag hatte ich die Aufgabe, als Wahlhelferin bei der Wahl der hessischen Wahlfrauen und Wahlmänner für die Bundesversammlung aufzupassen, dass alles korrekt und geheim abläuft. Ich stand vor den Wahlkabinen, konzentriert auf den Ablauf.

Als ein hochrangiges Mitglied der damaligen Landesregierung an mir vorbeiging, streifte er mich leicht am Po – eher seitlich, oberhalb, im Vorbeigehen.

Für mich war das in diesem Moment kein „klassischer“ sexueller Übergriff, keine Szene, in der ich erstarrt bin oder mich tief verletzt fühlte. Es war eine unnötige, irritierende Berührung, die mich aus der Situation riss und mich kurz denken ließ:
Musste das jetzt sein?

Die eigentliche Scham setzte bei mir später an einem ganz anderen Punkt ein.

Die Gerüchteküche und die Glosse

Denn kurz nach dem Ereignis tauchte diese Szene in einer satirischen Rubrik des Hessischen Rundfunks auf. Man muss diesem Bericht zugute halten, dass die Debatte vor 15 Jahren noch eine andere war. Heute würde diese flapsig verpackte gelbe Karte – eher Belustigung als Anklage, in der Öffentlichkeit sicher nicht mehr durchgehen. Ein Lacher über den „flirtenden“ Politiker, ein bisschen Moral, in der Summe aber eher ein verschämtes „huch, da war was“.

In den Tagen danach machte auf den Fluren des Landtags etwas die Runde. Nämlich, dass Journalistinnen und Mitarbeiterinnen sich oft unwohl fühlten im Umgang mit genau diesem Politiker. Und dass es nicht um meine „öffentliche“ Mini-Situation mit ihm ging, sondern um viele kleine Situationen mit anderen Frauen davor.

Mein eigentliches Schweigen: die Reaktion der eigenen Fraktion

Der Moment, der mich bis heute beschäftigt, kam danach.

Ich ging in meine Fraktion und sagte:
Wir sollten das thematisieren. Wir – als Grüne Fraktion – sind doch geradezu aufgefordert, Stellung zu beziehen. Wenn ein öffentlich-rechtlicher Sender eine solche Szene aufgreift, wenn auf den Fluren gemunkelt wird, dass Frauen sich unwohl fühlen – dann ist das eine Einladung, politisch hinzuschauen.

Ich wollte, dass wir:

  • zumindest intern klären, was da los ist,

  • uns solidarisch mit den Betroffenen zeigen,

  • und deutlich machen: Sexistische Grenzverletzungen – auch „im Vorbeigehen“ – sind kein Privatspaß mächtiger Männer.

Was ich bekam, war etwas anderes: Achselzucken. Verlegenheit. Und teilweise sogar Witze über mich und den Politiker. Der unausgesprochene Satz:
Das jetzt zum Thema zu machen, ist uns unangenehm.

Hier liegt meine eigentliche Scham:
Nicht darin, dass ich berührt wurde, sondern darin, dass ich damals nicht härter auf eine Debatte darüber bestanden habe.

Ich habe gemerkt, dass ich gegen eine Wand aus Unbehagen lief – und habe mich nicht ausreichend widersetzt. Ich war nicht hartnäckig genug und habe mich vom kollektiven Schweigen unterbuttern lassen.

15 Jahre her – und trotzdem aktuell

Das Ganze ist rund 15 Jahre her. Die Debattenlage war eine andere: #MeToo war noch nicht da, der Begriff „sexistische Gewalt“ war im politischen Mainstream kaum angekommen, vieles wurde noch als „Anmache“ verharmlost.

Auch der Hessenschau-Beitrag passte in diese Zeit. Er zeigte einerseits die gelbe Karte, andererseits bediente er das alte Muster: Ein bisschen schlüpfrig, ein bisschen amüsiert – als wäre das Ganze vor allem ein Stoff für witzige Anekdoten.

Heute haben wir andere Worte und einen klareren Blick. Und genau deshalb ist es für mich kein „Nachkarten“, sondern eine notwendige politische Einordnung, diese Geschichte noch einmal anders zu erzählen.

Wo die Scham wirklich hingehört

Auch zu meinem Erlebnis passt Gisèle Pelicots wichtige Forderung ‚die Scham muss die Seite wechseln‘ – gleich für drei Ebenen:

  1. Persönlich:
    Ich schäme mich nicht dafür, dass mich jemand am Po gestreift hat. Ich schäme mich aber dafür, dass ich nicht hartnäckig genug war, diese Grenzverletzung politisch zu thematisieren.

  2. Strukturell:
    Scham gehört auf die Seite derjenigen, die ihre Position für Grenzverletzungen und Unterdrückung nutzen – und auf die Seite derer, die lieber wegschauen, als sich mit den Konsequenzen auseinanderzusetzen.

  3. Organisatorisch:
    Eine politische Fraktion, ein Parlament, eine Partei, eine Redaktion – sie alle haben eine Verantwortung, solche Hinweise ernst zu nehmen. Wer in diesen Rollen lieber schweigt, um „keinen Ärger“ zu bekommen, schiebt die Scham zurück zu den Betroffenen.

Die eigentliche Frage ist also nicht:
War das nun ein „richtiger“ Übergriff oder nicht?
Sondern: Wie gehen wir damit um, wenn Frauen Irritation und Unbehagen benennen? Wer wird dann leiser – und wer wird geschützt?

Was ich heute anders machen würde

Wenn ich heute in der gleichen Situation wäre, würde ich zwei Dinge anders tun:

  1. Ich würde meine eigene Irritation ernster nehmen.
    Nicht im Sinne von „Ich bin Opfer”, sondern im Sinne von: Da ist eine Grenze überschritten worden, auch wenn sie subtil war. Und allein das rechtfertigt, es zu thematisieren.

  2. Ich würde stärker auf Solidarität bestehen.
    Ich würde nicht nur sagen: „Wir sollten uns damit beschäftigen“, sondern: „Wir können es uns politisch nicht leisten, das zu ignorieren. Und ich höre nicht auf, das anzusprechen, nur weil es unangenehm ist.“

Damals habe ich mich zurückgenommen. Heute würde ich “anstrengend” bleiben, nachfragen, das Thema formal auf die Tagesordnung setzen – so lange, bis klar ist: Wir entscheiden uns bewusst für oder gegen eine Auseinandersetzung. Aber wir tun nicht so, als gäbe es nichts.

Was du daraus mitnehmen kannst

Vielleicht kennst du Situationen, in denen du etwas als irritierend, grenzüberschreitend oder einfach „nicht okay“ empfunden hast – und später gedacht hast:

  • War das wirklich so schlimm?

  • Vielleicht stelle ich mich an.

  • Ich will nicht diejenige sein, die ein Fass aufmacht.

Ich würde dir heute gerne drei Dinge dazu mitgeben:

  • Dein Unbehagen ist ein Signal, kein Makel.
    Es ist erlaubt, eine Situation nicht okay zu finden, auch wenn sie (noch) nicht in ein Strafgesetzbuch passt.

  • Solidarität ist kein Luxus, sondern Schutz.
    Wir haben das Recht, im Kolleg*innenkreis, in politischen Gremien, in Organisationen Unterstützung einzufordern – und auch zu sagen: „Ich brauche euch an meiner Seite.“

  • Hartnäckigkeit ist politisch.
    Es macht einen Unterschied, ob ein Thema nach einem einmaligen Hinweis wieder verschwindet – oder ob jemand immer wieder aufsteht und sagt: „Nein, wir reden da jetzt drüber.“

Warum ich die Geschichte jetzt erzähle

Ich erzähle sie nicht, um im Nachhinein Punkte zu sammeln. Ich erzähle sie, weil sie zeigt, wie fein diese Linien sind:

  • zwischen „kleiner Szene“ und strukturellem Problem,

  • zwischen Satire und Verharmlosung,

  • zwischen Einzelfall und politischer Kultur.

Und ich erzähle sie im November, weil dieser Monat nicht nur für die großen Zahlen und die offensichtlichen Formen von Gewalt gegen Frauen stehen sollte, sondern auch für die leisen Mechanismen, die uns zum Schweigen bringen.

Wenn du beim Lesen an eigene Situationen denken musstest: Vielleicht ist jetzt ein guter Zeitpunkt, sie nicht mehr nur mit dir selbst auszumachen. Mit jemandem zu sprechen. Unterstützung einzufordern. Oder – wenn du in einer Organisation Verantwortung trägst – dafür zu sorgen, dass Frauen gehört werden.

Die Scham muss die Seite wechseln. Und wir müssen es sein, die daran erinnern – in unseren Parteien, unseren Institutionen, unseren Teams. Immer wieder. Bis es selbstverständlich ist.

Sarah Sorge

Sarah Sorge war viele Jahre Politikerin auf kommunaler und Landesebene, u.a. Landtagsabgeordnete im Hessischen Landtag und Stadtverordnete und Dezernentin in Frankfurt am Main. Schon aus dieser Zeit bringt sie Erfahrungen, Tipps und Anekdoten zu Machtspielchen, Sichtbarkeit und Haltung für Frauen in Politik und Führung mit. Von 2019 bis 2023 war sie Geschäftsführerin der Akademie Mixed Leadership. Hier hat sie an der Schnittstelle zwischen Weiterbildung und Forschung gearbeitet. Der Fokus diese Akademie der Frankfurt University of Applied Sciences liegt auf nötigen Strukturveränderungen für Führung & Diversität, für Frauen in Führung und auf ‚Female Empowerment‘.

Nebenberuflich arbeitete Sarah Sorge bereits seit 2016 als Coach für Frauen in Führung mit dem Schwerpunkt Politik und Verwaltung und als Trainerin für das Thema ‘Female Empowerment’. Seit 2024 konzentriert sie sich als Freiberuflerin mit voller Kraft auf diese Themen.

http://www.sorge-coaching.de
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