Gleichstellung ist kein Geduldsspiel

Warum Abwarten keine Strategie ist – und was du stattdessen tun kannst

“Frauen und Männer sind doch fast schon gleichberechtigt.” oder “Gleichstellung braucht eben Zeit.” oder “Es hat sich doch schon so viel verbessert in den letzten Jahren!”.

Kennst du solche Sätze? Sie begegnen mir ständig – in Führungsetagen, auf Podiumsdiskussionen, in politischen Debatten oder beim Netzwerken. Sie klingen beruhigend. Geduldig. Vernünftig.

Und trotzdem sind sie gefährlich. Denn sie verschleiern die Realität: Fortschritt ist kein Selbstläufer. Gleichstellung geschieht nicht einfach, wenn wir nur lange genug warten – sie muss erkämpft, aktiv gestaltet und durchgesetzt werden.

Zwischen Wunsch und Wirklichkeit: Die Zahlen sprechen für sich

Werfen wir einen nüchternen Blick auf die Fakten:

  • Nur 28 % der Führungspositionen in deutschen Unternehmen sind mit Frauen besetzt

  • Der Gender Pay Gap liegt immer noch bei etwa 16 %

  • In DAX-Vorständen beträgt der Frauenanteil gerade mal 25 %

  • Unbezahlte Care-Arbeit wird zu 60 % von Frauen geleistet

Würden wir im aktuellen Tempo weitermachen, bräuchten wir noch über 116 Jahre bis zur vollständigen Gleichstellung. Hand aufs Herz: Hast du so viel Zeit? Und Geduld?

Warten heißt oft: weiter funktionieren im System

In meinen Coachings und Trainings treffe ich viele Frauen, die wirklich etwas verändern wollen – in ihrer Organisation, in ihrem Führungshandeln, in unserer Gesellschaft. Und gleichzeitig erleben sie täglich, wie viel Kraft es kostet, gegen den Strom zu schwimmen.

Die Widerstände kommen selten offen daher. Es sind die subtilen Signale, die zermürben:

  • Der leicht spöttische Kommentar in der Teamsitzung

  • Dein Vorschlag, der überhört wird (und 10 Minuten später von einem männlichen Kollegen als brillante Idee gefeiert wird)

  • Die Einladung zum "wichtigen Strategietermin", die wieder nur an die üblichen Verdächtigen geht

  • Das unausgesprochene Erwarten, dass du als Frau auch noch die "Kümmererthemen" übernimmst

Die Reaktion auf diese ständigen kleinen Nadelstiche ist verständlich – aber fatal: Viele ziehen sich zurück. Warten auf bessere Zeiten. Oder hoffen, dass "die da oben" irgendwann erkennen, wie wichtig Gleichstellung ist.

Doch so funktioniert Wandel nicht.

Patriarchale Strukturen sind erstaunlich stabil – gerade weil viele in ihnen funktionieren, mitlaufen, sich arrangieren. Sie lassen sich nicht durch Geduld erschüttern, sondern nur durch klare Haltung und konsequentes Handeln.

Gleichstellung ist keine Wellness-Übung, sondern eine Machtfrage

Lass uns ehrlich sein: Gleichstellung ist kein Wohlfühlthema für den Feierabend. Es geht um harte, strukturelle Fragen:

  • Wer sitzt am Tisch, wenn wichtige Entscheidungen fallen?

  • Wessen Stimme hat Gewicht?

  • Wer definiert, was als "kompetent", "führungsstark" oder "durchsetzungsfähig" gilt?

  • Wer bekommt Ressourcen, Budget, Sichtbarkeit?

Wenn wir Gleichstellung ernst nehmen, müssen wir sie als das begreifen, was sie ist: eine Frage der Machtverteilung. Das bedeutet:

  • Wer gestaltet, muss Gleichstellung konsequent mitdenken – als Querschnittsthema, nicht als nette Randnotiz.

  • Wer Führung übernimmt, trägt Verantwortung dafür, wie Vielfalt im Team gelebt wird.

  • Wer Organisationen entwickelt, darf sich nicht mit symbolischen Maßnahmen zufriedengeben.

Viele Unternehmen schmücken sich heute mit Diversity-Statements, knackigen Werbekampagnen zum Internationalen Frauentag und bunten Logos zum Pride Month. Aber schau auf die Verteilung von Budget, Einfluss und Ressourcen – da ist von Gleichstellung oft wenig zu spüren. Dann bleibt sie ein hübsches Etikett ohne Substanz.

Was stattdessen hilft: Die vier S der aktiven Gleichstellung

Ich weiß selbst, wie anstrengend der Kampf für mehr Gleichstellung sein kann. Ich war viele Jahre in politischen Gremien, in Führungspositionen, in der Beratung. Gleichstellung voranzutreiben bedeutet oft: unbequem sein. Fragen stellen, wo andere Ruhe wollen. Strukturen offenlegen, die lieber verborgen bleiben sollen.

Und doch: Genau das ist der Weg. Und er lässt sich konkreter gestalten, als du vielleicht denkst:

1. Sichtbarkeit – zeige dich, auch wenn es unbequem wird

Wer sichtbar ist, kann Einfluss nehmen. Aber Sichtbarkeit ist nicht gleichzusetzen mit Selbstinszenierung. Es geht darum, Haltung zu zeigen und Verantwortung zu übernehmen – auch für Themen, bei denen du aneckst.

Gerade Frauen in Führung sind oft so sozialisiert, dass sie Harmonie wahren sollen. "Sei nett, lächle mehr, mach keine Wellen" – diese unausgesprochenen Erwartungen kennen wir alle.

Dabei braucht es genau jetzt Stimmen, die laut, klar und ja, manchmal auch unbequem sind. Nicht permanent, nicht auf Knopfdruck – aber strategisch.

Praxistipp: Entscheide bewusst, wann du "Störfaktor" sein willst. In welchen Sitzungen, zu welchen Themen ist es wichtig, dass du nicht locker lässt? Wo kannst du deine Position so formulieren, dass sie nicht ignoriert werden kann?

2. Strategie statt Aktionismus – plane deinen Einfluss

Gleichstellung gelingt nicht durch vereinzelte Maßnahmen, sondern durch systematisches Vorgehen. Das bedeutet konkret:

  • Ziele klar benennen: Was willst du in den nächsten 6, 12, 24 Monaten erreichen?

  • Verantwortlichkeiten festlegen: Wer muss handeln? Wer hat welchen Hebel?

  • Verbindlichkeit schaffen: Wie werden Fortschritte gemessen? Welche Konsequenzen gibt es, wenn nichts passiert?

  • Erfolge sichtbar machen – und ehrlich benennen, was nicht gelingt.

Ohne Strategie verkommt Gleichstellung schnell zum Aktionismus: ein Workshop hier, ein Leitbild dort – aber keine nachhaltige Veränderung. Das frustriert alle Beteiligten und verstärkt Widerstände.

Praxistipp: Nimm dir Zeit, deine persönliche Gleichstellungsstrategie zu entwickeln. Welche drei konkreten Veränderungen willst du in deinem Umfeld bewirken? Und welche Verbündeten brauchst du dafür?

3. Solidarität als Prinzip – nicht als nettes Extra

Niemand verändert Systeme allein. In meinen Coachings höre ich besonders von Frauen in Führungspositionen immer wieder, wie einsam sie sich mit ihren gleichstellungspolitischen Anliegen fühlen.

Darum ist es so wichtig, Netzwerke zu stärken – innerhalb deiner Organisation, über Hierarchiegrenzen hinweg, über verschiedene Sektoren hinweg.

Echte Solidarität bedeutet:

  • Sich gegenseitig Rückenwind geben

  • Auf Stimmen verweisen, die überhört wurden

  • Die eigene Macht nutzen, um andere zu stärken

  • Nicht schweigen, wenn andere angegriffen werden

Du musst nicht alles allein schaffen. Aber du kannst dazu beitragen, dass andere sichtbarer werden und mehr Einfluss gewinnen.

Praxistipp: Überlege dir: Wen kannst du in den nächsten Wochen konkret unterstützen? Welches Netzwerk kannst du (wieder) aktivieren? Und von wem könntest du selbst Unterstützung gebrauchen?

4. Spannungen aushalten – Reibung erzeugt Wärme und Bewegung

Veränderung erzeugt immer Widerstand und Reibung. Wer das um jeden Preis verhindern will, verhindert auch echten Wandel.

Gleichstellung braucht:

  • Offene Diskussion statt Schweigen

  • Klare Auseinandersetzung statt vager Kompromisse

  • Menschen, die den Mut haben, in Spannungsfeldern zu stehen

Nicht weil es angenehm ist – sondern weil es notwendig ist.

In meinen Führungskräfte-Trainings beobachte ich oft, wie schwer es vielen fällt, Konflikte auszuhalten. Dabei sind genau diese Reibungspunkte die Stellen, an denen echte Transformation beginnt.

Praxistipp: Welche gleichstellungsrelevanten Konflikte gehst du derzeit aus dem Weg? Wo könntest du klarer Position beziehen, auch wenn es unbequem wird?

Deine Macht liegt im Handeln – nicht im Warten

Was würde passieren, wenn wir alle aufhören würden zu warten? Wenn jede von uns – in ihrer Position, mit ihren Möglichkeiten – wirklich aktiv würde?

Stell dir vor:

  • Du sprichst die fehlende Diversität im Führungs-Team offen an – und machst konkrete Vorschläge zur Veränderung

  • Du bildest strategische Allianzen mit anderen Gleichgesinnten in deiner Organisation

  • Du nutzt deine Position, um andere Frauen sichtbar zu machen und zu fördern

  • Du forderst transparente Kriterien für Beförderungen und Gehaltserhöhungen

  • Du weigerst dich, in reinen Männergremien zu sitzen

Keine dieser Handlungen ist für sich genommen revolutionär. Aber zusammen, systematisch und strategisch eingesetzt, können sie Strukturen verändern.

Fazit: Wer auf Gleichstellung wartet, bekommt sie nicht – wer sie will, muss sie machen

Gleichstellung ist kein Geduldsspiel und kein netter Prozess, der im Hintergrund von allein läuft.

Sie ist eine politische, strategische und persönliche Aufgabe. Und sie beginnt da, wo du Verantwortung nicht weitergibst – sondern annimmst.

Deshalb mein Appell an dich:

Hör auf zu warten.
Fang an zu gestalten.
Und bleib dran – auch wenn es unbequem wird.

Denn wer Gleichstellung will, muss bereit sein, alte Strukturen zu irritieren und neue Räume zu schaffen. Für sich selbst. Und für alle, die nach uns kommen.

Du willst wissen, wie du in deinem Führungsalltag noch wirksamer für Gleichstellung eintreten kannst? In meinem individuellen Coaching erarbeiten wir gemeinsam deine persönliche Strategie. Oder buche ein maßgeschneidertes Training für dein Team oder deine Organisation. Kontaktiere mich für ein unverbindliches Erstgespräch!

Sarah Sorge

Sarah Sorge war viele Jahre Politikerin auf kommunaler und Landesebene, u.a. Landtagsabgeordnete im Hessischen Landtag und Stadtverordnete und Dezernentin in Frankfurt am Main. Schon aus dieser Zeit bringt sie Erfahrungen, Tipps und Anekdoten zu Machtspielchen, Sichtbarkeit und Haltung für Frauen in Politik und Führung mit. Von 2019 bis 2023 war sie Geschäftsführerin der Akademie Mixed Leadership. Hier hat sie an der Schnittstelle zwischen Weiterbildung und Forschung gearbeitet. Der Fokus diese Akademie der Frankfurt University of Applied Sciences liegt auf nötigen Strukturveränderungen für Führung & Diversität, für Frauen in Führung und auf ‚Female Empowerment‘.

Nebenberuflich arbeitete Sarah Sorge bereits seit 2016 als Coach für Frauen in Führung mit dem Schwerpunkt Politik und Verwaltung und als Trainerin für das Thema ‘Female Empowerment’. Seit 2024 konzentriert sie sich als Freiberuflerin mit voller Kraft auf diese Themen.

http://www.sorge-coaching.de
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